Die Fassade bröckelt
Still liegen wir in unserem Bett. Der Wind pfeift um unsere Hütte. Wir sind angespannt und die Ohren angespitzt. Jedes Geräusch von draußen frisst sich ins Bewusstsein. „Was genau war das?“, flüstert mir Anna ins Ohr. Ihr Körper ist schweiß gebadet und Ihre Augen weiß und klar. „Ich weiß es nicht, ich werde hier noch wahnsinnig“, antworte ich. Ich schaue durch das Fenster hinaus. Es ist stockduster. Kein Licht weit und breit. Zum ersten Mal haben wir Angst im Paradies. Unser grünes zuhause, unsere Spielwiese, ist zum Alptraum geworden.
Wie genau sind wir da bloß reingeraten?
Anna liebt die Natur und träumte schon als kleines Mädchen vom eigenen Garten. Barfuß im Beet herumspringen, Insekten beobachten und frische Erdbeeren. Gibt es was Besseres als frische Erdbeeren? Der Naturgarten verspricht diese kleinen und großen Wunder und hat Anna bis heute nicht losgelassen. Mit den eigenen Händen etwas schaffen. Gestalterin einer eigenen grünen Oase. Das treibt sie an. Unberührte Natur, romantisches Landleben, ankommen. Das alles findet man in Brandenburg!? Dachten wir uns auch und haben ein wildes Gartengrundstück im Outback gepachtet. Kängurus gibt es hier nicht, dafür einen atemberaubenden Sternenhimmel.
Was mich anbetrifft. Ja, ich bin gerne an der frischen Luft. Aber einen eigenen Garten? Ich habe immer bei meinen Großeltern den Rasen gemäht, Laub geharkt und Unkraut entfernt. Für mich war das damals mehr Strafarbeit als die große Freiheit. Diese anfängliche Skepsis hat sich in große Zuneigung umgewandelt. Mittlerweile is my Garden my Castle. Ein Geisterschloss wollte ich allerdings nie haben.
Spätestens im März des Jahres ist es dann wieder soweit. Der Winterschlaf ist vorbei und die Krokusse läuten die Gartensaison ein. Die ersten Bienen treten auf den Plan und der Garten wird zum Leben erweckt. Unser Garten liegt in einem Dorf mitten in Brandenburg. Es gibt dort eine Gartensiedlung mit drei Zufahrtswegen. Die Gärten sind recht groß und es gibt hier keine starren Regeln wie in einer Schrebergartensiedlung. Dort könnte ich übrigens nie glücklich werden. Diese Enge und das Gefühl der Überwachung. Wie in Reihenhaussiedlungen, schrecklich! Unser Garten liegt im Distelweg. Dieser Name beschreibt das hier alles ganz gut. Wunderschön, aber mit vielen Stacheln. Den Rest könnt Ihr euch ja denken.
Paul, unser direkter Nachbar, ist ein echter Kommunikator. Er hat das Grundstück auch erst seit einigen Jahren und interessiert sich stark fürs Imkern. Wir kommen gut mit ihm klar. Er hilft uns und wir helfen Ihm. Er weiß viel über die Menschen in der Gartensiedlung. Warum? Weil er einfach mit Ihnen spricht. Dafür sind Anna und ich einfach zu verschlossen. Wir leben eher im Stillen und meiden Kontakte. Das ist in einer Gartensiedlung aber gar nicht so einfach. Daher haben wir uns schon gebessert und sind offener geworden. Durch Paul erfahren wir aber exklusive Infos über die Gartenkolonie.
Mitte März erzählte uns Paul von Einbrüchen im Walnussweg. Das ist ein Weg weiter. Davon hört man ja häufiger. Gerade über Winter sind Lauben ein begehrtes Ziel bei Landstreichern und kleinkriminellen. Aus Erfahrung weiß das jeder hier und lässt daher auch keine wertvollen Sachen in der Hütte. Aber klapprige Werkzeuge, Alkohol oder anderen Kram sind es offenbar Wert. Wir haben uns nichts weiter dabei gedacht und es als normal abgestempelt. Einbrüche gibt es schon mal. So what!
Die Tage gingen ins Land und es wurde wärmer. Schon im April war es dieses Jahr sommerlich warm. Der Garten blühte auf. Doch obwohl wir geheimnisvolle Eigenbrödler sind, haben wir ein merkwürdiges Getuschel in der Kolonie vernommen. Unruhe lag in der Luft. Die Bunte Siedlung wurde von einem grauen Schleier durchzogen.
Eines Nachmittags, die Sonne brannte, buddelte ich wie ein Verrückter im Boden, als Paul den Weg hochkam. Er sah mich skeptisch an und meinte: „wenn das so weitergeht, dann müssen wir uns was überlegen“. Ich wusste nicht wovon er sprach und fragte interessiert nach: „Was genau meinst du?“
„Habt Ihr das wirklich nicht mitbekommen?“, sagte er erstaunt. „ Die sind jetzt auch im Eibenweg eingestiegen. Bei Hans wurde sogar schon das zweite Mal eingebrochen!“.
Hans wohnt im Walnussweg und gehört zum alten Eisen. Er gärtnert hier schon ewig. Seine Passion gilt den Rosen. Er achtet penibel auf den optischen Gesamteindruck seines Gartens. Des Öfteren sieht man ihn in Gärtnerklamotte durch die drei Wege schlendern, mit Hut und vollbart ist er nicht zu übersehen.
„Der arme Hans“, erwiderte ich Paul. „Was haben sie denn geklaut?“ Paul schaute zornig zur Seite: „Nichts, sie haben alles durchwühlt und nun auch noch sein Fenster zerstört. Wer zum Teufel bricht denn zweimal in die gleiche Gartenhütte ein? Da gibt es doch eh nichts zu holen.“ Paul hatte Recht. Sinn ergab das alles nicht. „Und es war wirklich nichts weg?“, fragte ich hartnäckig nach. „Äh, ich glaube ein paar Bierflaschen fehlten ihm. Aber dafür nochmal einbrechen? Beim ersten Einbruch haben sie wohl eine Orangenbrause gestohlen. Das ist doch assozial, sich so zu verhalten“, schimpfte Paul. Ich nickte und buddelte nachdenklich weiter.
Kurze Zeit später erzählte ich Anna von der Begegnung mit Paul. Wir setzten uns hin und verständigten uns darauf, die Ruhe zu bewahren. Das sind bestimmt betrunkene Jugendliche, die sich toll fühlen, wenn sie eine billige Laubentür aufbrechen oder Fenster einschlagen. Vielleicht veranstalten die ja Mutproben in unserer Gartensiedlung und merken allmählich, wie langweilig das auf Dauer wird. Eine Nachbarin vom Eibenweg sagte uns auch schon mal, dass hier immer wieder Jugendliche Alkohol gestohlen haben, also lasst besser nichts mehr hier. Wir erinnerten uns daran und beschlossen, alle Getränke fortan wieder mit nach Hause zu nehmen. Dann wird uns schon nichts passieren, redeten wir uns ein…
Freudig fuhren wir am nächsten Wochenende wieder raus. Blauer Himmel und Frühlingsduft lag in der Luft. Als wir ankamen, traf uns der Schlag. Bei allen vier Nachbarn um uns herum wurde die Woche über eingestiegen. Außer bei uns.
Paul rannte uns gehetzt entgegen und machte Meldung: „Sie haben meine massive Tür mit schwerem Gerät aufgehebelt und nun ratet mal was sie mitgenommen haben?“ Wir zuckten schüchtern mit den Schultern. „ Sie haben mir Brausen und eine Tüte Nudeln gestohlen. Für den Flachbild-Fernseher haben sie sich gar nicht interessiert. Alles war durchstöbert. Schuhabdrücke waren zu sehen. Und meine teure Holztür ist jetzt im Arsch! Ich habe sofort die Polizei gerufen“, ergänzte Paul energisch. Bei den anderen Nachbarn war es das Gleiche. Alles wurde durchsucht, aber nichts Wertvolles mitgenommen. Die Polizei nahm alle Spuren auf und machte allen betroffenen unmissverständlich klar: „Wir haben kein Personal, um hier nachts Streife zu fahren.“
Das hat gesessen. Die Verunsicherung in der Gartensiedlung war nun deutlich spürbar. Paul erzählte uns alle Details von den anderen Einbrüchen und wir waren entsetzt. Mittlerweile wurde in unserer Kolonie 25 Mal eingebrochen und das innerhalb der letzten drei Wochen. Das hat hier noch keiner erlebt. Spätestens jetzt machten sich die Menschen hier ernsthafte Sorgen.
Sie wurden misstrauisch und Ihre Fantasie wurde entfesselt. Es bildeten sich Gerüchte und Pläne wurden geschmiedet. Mir sind solche Entwicklungen äußerst Suspekt. Ich habe Angst vor angsterfüllten Menschen. Sie sind nicht rational, handeln überstürzt und bilden sich Dinge ein. Auf der anderen Seite, war das hier alles nicht mehr zu leugnen. Da war was faul, ganz bestimmt. Und so begannen auch wir eine logische Erklärung für diesen Irrsinn zu suchen.
Obwohl wir nicht mehr ganz unbefangen waren, hatten wir überzeugende Theorien anzubieten. Wir wurden Hobby-Ermittler und begannen kreativ mit dieser Situation umzugehen. Für uns gab es nur zwei plausible Lösungen.
Erstens: Der Einsame Psycho
Sofort dachten wir an eine männliche Person. Sorry, aber eine Psychopatin kam uns bei diesen Tatmustern einfach nicht in den Kopf. Sportlich und smart müsste er sein, aber mit dominanten kranken Gedanken. Paul hatte uns nämlich davon berichtet, dass auch auf Grundstücken eingestiegen wurde, welche sehr gut und massiv umzäunt sind. Zudem gab es Einbrüche am heller lichten Tage. Es lag also nah, dass wir hier alle beobachtet werden. Anna griff meine Hand, legte sie auf ihren Arm und sagte: „Spürst du das? Ich habe total die Gänsehaut. Hoffentlich liegen wir mit dieser Theorie falsch.“ Ich konnte ihre Angst fühlen und entgegnete zögernd: „Bestimmt ist das alles ganz anders.“
Zweitens: Die große Wirtschaftsverschwörung
Um den Grusel aus den Schultern zu schütteln, hatten wir noch eine zweite Idee. Vielleicht wollte jemand dafür sorgen, dass die Grundstückpreise sinken oder die Menschen hier gänzlich das Weite suchen. Wir haben diese Theorie ausgeschmückt und am Ende ergab sie sogar ein bisschen Sinn. Zugegeben. Für den ersten Moment wirkt das alles an den Haaren herbeigezogen. Aber manchmal hilft queeres Denken ungemein. Diese Gedankenspiele lenkten uns ab. Und bisher wurden wir ja auch verschont. Vielleicht wird der Kelch an uns vorübergehen und alles klärt sich bald auf, dachten wir so insgeheim.
Paul dagegen sah das ganz anders. Er kam am Abend nochmal rüber und präsentierte uns seine neueste Errungenschaft. Eine Wildtierkamera. Er war überzeugt, wir sind als Nächstes dran. Paul überredete uns das Ding bei uns anzubringen, schaute in die Ferne und sagte mit voller Hingabe: „damit kriegen wir Euch!“ Mit diesem Aktivismus machte er uns Mut und so ließen wir uns die Freude am Garten auch an diesem Wochenende nicht mehr nehmen.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ging es am nächsten Donnerstagabend wieder in den Garten. Das Wetter war grandios und es gab viel zu tun da draußen. Unbeschwert waren wir an diesem Tag aber nicht mehr. Auf der Fahrt waren wir beide ganz ruhig. Kurz vor der Einfahrt zum Distelweg schaute ich in Annas bangende Augen und begegnete ihr mit einem aufgesetzten Lächeln, um sie zu beruhigen. Ich fuhr den Weg langsam im ersten Gang hinauf. Nicht um die Spannung zu erhöhen. Wohl eher weil ich ahnte, dass wir heute fällig sind. Manchmal kann Ungewissheit auch ein Geschenk sein.
Am Eingangstor angekommen sahen wir der Tatsache ins Auge. Ja, diesmal hat auch unsere Fassade gebröckelt. Zumindest war die Holztür aufgebrochen. Auf dem Bett drinnen lag das Tatwerkzeug. Anscheinend wurde die Tür mit einem dreckigen Pfostenträger zerstört. Nun spürten wir dieses beklemmende Gefühl am eigenen Leibe. Da waren welche in unserem Haus. Und du weißt nicht, was sie gemacht haben. Je mehr man darüber nachdenkt, desto schlimmer werden die Gedanken. Unser sicheres Gebilde wurde angekratzt. Unsere Intimsphäre durchbrochen. Hilflosigkeit machte sich breit. Auch bei uns wurde nichts gestohlen. Die anfängliche Sprachlosigkeit schlug in Wut um. Wir ärgerten uns, dass unser Gartenfrieden so perfide gestört wird. Unser Garten zum Angstort mutiert.
Um herunterzukommen schnappte ich mir die Leiter und montierte die Wildtierkamera von Paul ab. Gespannt blätterte ich die Nachtaufnahmen durch. Doch es gab kein einziges Foto, wo etwas zu sehen war. Nur Dunkelheit und Katzen. Da Paul an diesem Tag nicht da war, liefen wir zu Hans und berichteten ihm von dem Einbruch. Hans nahm die Nachricht ohne große Empörung auf. Er wirkte müde und kaputt. Seinen Garten hatte er mittlerweile in einen Hochsicherheitstrakt verwandelt. Überall waren versteckte Bewegungsmelder mit Signalfunktion. Er hatte Nagelbretter hinter den Zäunen gelegt und andere Fallen aufgestellt. Betroffen und entsetzt schauten Anna und ich uns in die Augen. Wir dachten beide sofort an Kevin allein zu Haus, nur dass das Hier kein Film war. Hans hatte den Kampf aufgenommen und erzählte uns wie seine Woche war: „Ich war die ganze Woche mit meiner Frau im Garten und unsere Bewegungsmelder sind fast jede Nacht angesprungen. Jedes Mal habe ich mich aus dem Bett gequält und nachgeschaut. Ich habe aber niemanden gesehen.
Außer in der einen Nacht. Ich bin mir sicher, dass da ein großer schlanker Mann war. Ich habe Ihn aber nicht richtig sehen können. Es war Dunkel und ich konnte nur seinen Schattenriss erkennen. Der schleicht hier um unsere Grundstücke und spioniert unsere Gewohnheiten aus. Dieser Typ ist für all die Einbrüche verantwortlich, da bin ich mir sicher“. Anna antwortete ihm: „Aber du hast ihn doch nicht mal richtig gesehen?“ „glaub mir Anna, der ist hier jede Nacht unterwegs, hockt in den Hecken und verbreitet Angst und Schrecken“, sagte Hans überzeugend. Während wir zu unserem Garten zurückgingen, beschäftigte uns nur noch eine Frage. Wollen wir diese Nacht wirklich hier übernachten? Es war in der Woche und in unserem Weg waren keine Nachbarn um uns herum im Garten. Wir waren also weitestgehend allein. Und Hans Geschichten haben uns Angst gemacht.
Was würdet ihr jetzt tun?
Wir haben uns entschieden, dort zu bleiben. Mit zwei Riegel und massiven Brettern haben wir unsere Tür verbarrikadiert und uns auf die kommende Nacht vorbereitet. Wir wollten uns nicht einschüchtern lassen, wollten stark sein. Das ist schließlich immer noch unserer Garten, schworen wir uns ein. Einen Moment lang waren wir euphorisch, freuten uns über unseren Mut und waren angstfrei. Wir saßen bis spät in die Nacht auf unserer Terrasse, tranken Wein und verloren uns in tiefe Gespräche. Wir hatten schon wieder fast vergessen, wovon Hans uns erzählt hat.
Freudig trunken beendeten wir den Abend, schlossen unsere notdürftig reparierte Tür und machten uns bettfertig. Und plötzlich kam sie wieder. Die schleichende Angst vor dem mysteriösen Einbrecher. Aber mit dem was dann geschah, hatten wir beide nicht gerechnet. Diese Nacht, weit draußen in Brandenburg, in einer kleinen Gartenhütte wurde für uns zu einem Horrorerlebnis…
Schlussworte
Das war meine erste Kurzgeschichte. Besser gesagt, Teil eins davon. Wie hat euch diese Geschichte gefallen? Habt ihr Ideen, was im zweiten Teil passieren könnte? Schreibt es mir in die Kommentare!